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Urlaubsgruß des Deutschen Musikautomaten-Museums

Filmaufnahmen und Filmschnitt. Klaus Biber, DMM

“Urlaub ohne Koffer” – im Deutschen Musikautomaten-Museum

Urlaub zur Erholung fern der eigenen vier Wände - um den sich in der Corona-Pandemie die Diskussionen oft drehen - war im deutschsprachigen Raum anfangs eine Sache privilegierter Schichten. Er kam – neben der „Grand Tour“, der Bildungsreise junger Adeliger durch europäische Metropolen - erstmals verstärkt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Die Eisenbahn als neues und rasch wachsendes Verkehrsmittel machte das Reisen ab den 1880er Jahren schneller und billiger. In den neuen Gästeorten, die das Potential des Tourismus erkannten, koordinierten dann bald örtliche oder regionale Vereine oder Verbände notwendige Infrastrukturen wie etwa Hotels, Gasthäuser, Kuranlagen, Wanderwege oder kulturelle Programme (z. B. Kurkonzerte). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Winter ebenso Reisesaison. Bis zum Ersten Weltkrieg blieb aber die mehrwöchige „Sommerfrische“ – zudem in zunächst eher wenigen mondänen Urlaubsorten – ein Privileg des Adels und des Großbürgertums. Doch die Weimarer Republik schuf mit ihren Arbeitsgesetzen, die Arbeitszeiten regelten und Angestellten Urlaubstage gewährten, die Basis für einen ersten „Massentourismus“ in den 1920er Jahren. Sekretärinnen oder Facharbeiter fuhren eine Woche an die See oder in die Berge oder vielleicht nur über das Wochenende – was man heute mit Kurzurlaub und Tagestourismus bezeichnen würde. Ganz bewusst setzte man auch auf diese neuen Gäste, da die, der vergangenen „Belle Epoque“ nun weitgehend ausblieben. Parallel erweiterte sich so der Kreis der Orte, die den Fremdenverkehr als Einnahmequelle aufgriffen. Aber auch für die neuen Reiseschichten wurde „Urlaub“ neben dem Effekt der Erholung ebenso ein Teil gesellschaftlichen Prestiges.               
Gerade für den Tourismus der Schweiz lassen sich schon „Wurzeln“ wie mit Albrecht von Hallers Gedicht "Die Alpen" (1729) und Jean-Jacques Rousseaus in der Schweiz angesiedelten Roman "La Nouvelle Heloise" (1761) finden. Die dort idealisierten Beschreibungen der Schweizer Berglandschaft begeisterten die Leser. Eine zuvor als gefährlich gefürchtete Hochgebirgswelt wurde nun romantisch verklärt.
Wie tragend die Schweiz als Maßstab von Reisen einst geworden war, zeigt das andere Ausflugsgebiete sogar nach ihr benannt wurden: Fränkische Schweiz, Sächsische Schweiz, Kaschubische Schweiz (Szwajcaria Kaszubska im heutigen Polen), die Neuffener Schweiz (auf der Schwäbischen Alb), um nur einige zu nennen. Seit der Romantik im frühen 19. Jahrhundert wurden topografisch auffällige Felsformationen mit dem Zusatz „Schweiz“ überhöht. Allein über 100mal im heutigen Deutschland, aber auch im übrigen Europa. Die Bergwelt der Schweiz war somit das Synonym für Urlaub und Reise schlechthin geworden.

Das Helios I/34
Solche touristischen Entwicklungen skizziert auch ein Objekt im Deutschen Musikautomaten-Museum im Schloss Bruchsal. Das Orchestrion „Helios I/34“ der Leipziger Firma Ludwig Hupfeld. Um 1912 entstanden, wird es mit einem Elektromotor und gelochten Papiernotenrollen pneumatisch betrieben. Instrumentiert ist es in seinem Inneren mit einem Klavier, welches auch „Mandolineneffekte“ hervorbringen kann. Die zwei zugehörigen Pfeifenregister können den Sound einer „Violine“ oder „Cellos“ imitieren. Ein Glockenspiel (Metallophon) und ein Schlagzeug mit großer und kleiner Trommel sowie Becken ergänzen dies. Die Zuschaltung der genannten Effekte und Instrumente ist ebenfalls auf der Papiernotenrolle durch Lochungen aufgebracht.
Die „Helios-Reihe“, auf der Basis eines „Piano-Orchestrions“, war eine Erfolgslinie von Hupfeld, die von 1900 bis Anfang der 1930er Jahre in circa zwanzig Varianten lieferbar war. Neben den musikalischen Qualitäten der Geräte, die der Hersteller dieser Reihe für Tanzveranstaltungen, Gastronomie oder frühe Kinobetreiber in einem Sonderkatalog empfahl – sich also eher an die Mittelschicht als musikalische Endkonsumenten richten sollte - wurde besonders auch deren äußere Gestaltung hervorgehoben. Zitat:
„Die Helios-Gehäuse verraten eine massive Bauart und feinste Ausführung. Sie sind das Ergebnis eines freien Wettbewerbes verschiedener, auf diesem Gebiete wohlerfahrener Künstler. Die einzelnen, teilweise sehr kostspieligen Entwürfe werden geprüft, durchberaten, und soweit erforderlich geändert, oder mehrere Entwürfe werden zu einem kombiniert. Oft gilt es, allzu strenge künstlerische Formen in eine freie, lebendige Architektur aufzulösen und eine Formensprache anzuwenden, die auch von dem großen Publikum verstanden wird. Dass es gelungen ist, zwischen künstlerischen Forderungen und den Ansprüchen des Publikums zu vermitteln, beweisen die hier abgebildeten Modelle, welche sämtlich auf der Höhe des Zeitgeschmacks stehen.“ Konkret: Formen zeitgenössischer elitärer Kunst sollten auf einen Breitengeschmack herabgebrochen werden.
Der Titelzusatz des Kataloges der mechanischen Musikinstrumente aus Leipzig, „Kunst-Orchestrien“, ist sicher auch als eine damalige Marketing-Strategie zu verstehen, in einer Zeit, als Musikreproduktionsgeräte solcher Art nicht nur dieser Firma zunehmend durch die Konkurrenz von Phonograph, Grammophon und folgend dem Radio unter Druck gerieten. Neben dem akustisch-technischen Aspekt wurde so die optisch-künstlerische Gestaltung ein Verkaufsargument. Dabei war die Bezeichnung der Serie „Helios“ schon bewusst gewählt worden. Denn mit „Helios“, der nach der griechischen Mythologie mit einem vierspännigen Sonnenwagen über den Himmel zieht, verbanden sich auch die Geräte von Hupfeld, da hier in verschiedener Weise Lichtelemente zur Gestaltung der Objektgehäuse mit einbezogen wurden.

Anzeige Helios I/34. Foto: DMM


Bergromantik
Das Helios I/34 im DMM wurde in dem besagten Katalog aus Leipzig mit einem „Eichengehäuse mit Schnitzerei und Lichtwechsel-Gemälde mit beweglichen Teilen“ offeriert. Letzteres zeigt als ein dreigliederiges Hinterglasbild eine imaginäre, wildromantische alpine Landschaft, mit rauschendem Bach, Almhütte und weiteren Häusern im alpinen Stil, einem zentralen Bergpanorama mit vorgelagertem Dörflein, rechts seitlich eine Burgruine auf einer Bergspitze, eine Mühle mit wasserbetriebenem Mühlrad im Mittelgrund und auf einer linken seitlichen Anhöhe eine Windmühle.
Setzt sich das Instrument musikalisch in Gang, wird mit dem „Lichtwechsel-Gemälde“ ein Tageslauf in den Bergen durch Lichtelemente vorgeführt, die Imagination von aufgehender und untergehender Sonne sowie der Lauf des Mondes. Die sinkende Sonne suggeriert sogar ein Alpenglühen des Bergmassivs. Und „in der Nacht“ erscheinen die Fenster einer Reihe der zusehenden Häuser von innen beleuchtet. Der Wildbach „rauscht“ dahin. Ermöglicht wird dies durch mechanisch bewegte Leuchtkörper und weitere hinter der bemalten Glasscheibe installierte und sich bewegende Elemente. So rotieren z. B. Mühlrad und Windmühlenflügel wie ein hinterlegtes Schattenspiel.
Das Hinterglasbild selbst wurde handwerklich ausgeführt – wohl von einem „Dekorationsmaler“ – wobei zu bedenken ist, dass hier der Farbauftrag in umgekehrter Reihenfolge gedacht und ausgeführt werden musste. Auch die Anwendung eher deckender Farben oder solchen, die lichtdurchlässig sind, war zu berücksichtigen. Ein solches Hinterglasbild ist wohl nicht „die große Kunst“, aber dennoch wurde damit das „Lichtwechsel-Gemälde“ eines jeden Gerätes ein Unikat.

Hinter der Kulisse
Die Beschränkungen in der Bewegungs- und Reisefreiheit in der Zeit der Pandemie, wurden schließlich auch von Schließungen des DMM begleitet. Diese Zeit konnte aber der Fachrestaurator für mechanische Musikinstrumente, Klaus Biber, dafür nutzen, eine Reihe von Wartungs- und Restaurierungsarbeiten an Objekten des Museums vorzunehmen. Darunter am Helios I/34. 
Als das Instrument 2003 in das DMM kam, war es „bedingt“ spielbar, bald aber nicht mehr. Bei näherer Einsicht konnte Herr Biber nun feststellen, dass es einst zwar „generalüberholt“ worden war, etwa Bälge und Ventile erneuert (teils aber nicht) worden waren. Für einen Restaurator ist es immer schwierig mit den Arbeiten des Vorgängers umzugehen, denn im Laufe der Zeit haben sich auch generelle Ansprüche der Restaurierung gewandelt. Was einst als Maßnahme Standard war, ist heute undenkbar.
Herr Biber hat rund 500 Instrumente des Museums zu betreuen. Und für die Restaurierung eines Objektes wie das Helios sind über 700 Arbeitsstunden einzuplanen. „Komplett-Restaurierungen“ sind daher in der Regel nur teils möglich. Sein Ziel war es nun, bei dem Objekt in erster Linie das Illusionsbild vorführbar zu machen. Hier wurden alle Funktionen wiederhergestellt und gangbar gemacht, diverse Elektroschalter und Glühbirnen repariert und ausgewechselt.
Dies sollte aber auch von der musikalischen Mechanik des Gerätes begleitet werden. Dazu mussten die melodieführenden Violin-Pfeifen und deren Windlade wieder spielbar gemacht werden. Bei der Pfeifenlade wurden Ventile und Steuerbälge erneuert, die Pfeifen intoniert und gestimmt. Zusätzlich wurde das Klavierteil soweit wiederhergestellt, dass es die Melodiepfeifen wieder annehmbar begleiten kann. Hier wurde die Mechanik reguliert und es insgesamt gestimmt. Das Gebläse, dass für den nötigen „Wind“ sorgt, wurde abgedichtet und diverse Ventile repariert. Das Klavier des Instrumentes besitzt statt der Tasten unter jedem Klavierhämmerchen einen kleinen Balg, der sich per Unterdruck des pneumatischen Systems des Gerätes gesteuert, zusammenziehen kann und somit den Klavierton auslöst. Hier bestand ebenso Handlungsbedarf. Auch sollten der Rücklauf und die Ausschaltung der Notenrolle für eine Vorführung wieder funktionieren.
Der jetzige Zustand des Instrumentes ist für den Restaurator des DMM vorerst ein vertretbarer Kompromiss. Um den vollen Umfang der einstigen musikalischen Qualität des Objektes, die auf den gelochten Notenrollen verzeichnet sind, hervorbringen zu können, müsste das Orchestrion komplett in seine Bestandteile zerlegt und aufgearbeitet werden. Aber auch dies ist Museumsalltag: ein Abwägen von Wünschen und Möglichkeiten, von dem die Besucherinnen und Besucher kaum etwas ahnen.

„Helios in einem Restaurant der französischen Schweiz“
Foto: DMM

Einladung
Das „Kunst-Orchestrion“ von Hupfeld bot schon damals eine imaginäre Reise in ein einst touristisches Ziel der Upper-Class. Interessant dabei, dass ein vergleichbares Helios in einem Restaurant der französischen Schweiz“ Aufstellung fand, wie ein Foto (entstanden circa 1910/20) als Referenz das genannten Kataloges der Firma Hupfeld zeigt. Es scheint, dass der sächsische Anbieter mit seinem Phantasiebild eines alpinen Ambientes auch das eidgenössische Selbstbild im Kern getroffen hatte. Bilden Sie sich bei einem Besuch im Deutschen Musikautomaten-Museum ein eigenes Urteil darüber. Und zuletzt: Das DMM bietet noch viele weitere „Reisen“. Etwa in die Herstellungsgebiete mechanischer Musikinstrumente: den Schwarzwald, Leipzig, Berlin, Wien, die Schweiz, Frankreich, England, die Niederlande und Belgien oder die USA. Und im Umkehrschluss, wo diese Objekte – gerade etwa aus deutscher Produktion – Anwendung fanden. Reisen Sie imaginär mit. Und alles, ohne Koffer packen zu müssen …
 
Andreas Seim
Klaus Biber