Sommergruß des Deutschen Musikautomaten-Museums
„Wir orgeln heute für die internationale Solidarität“ – eine melodische Wende
Knapp 30 Jahre nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung wurde dem Deutschen Musikautomaten-Museum in Bruchsal ein privater Nachlass übergeben. Er wirft einen besonderen Blick auf die Geschichte der Drehorgel. In der Zeit von der zweiten Hälfte der 1980er Jahre von BRD und DDR bis über die Jahrtausendwende in Deutschland hinaus. Und dabei steht nicht der technikhistorische Aspekt – die Entwicklung der Geräte oder die Geschichte ihrer Produzenten – im Zentrum. Er spricht über den Gebrauch dieser mechanischen Musikinstrumente, dem Agieren von deutschen Drehorgelspielern, ihren Intentionen, damit musikalisch in der Öffentlichkeit aufzutreten. Und trotz der unterschiedlichen politischen deutschen Systeme offenbart sich, dass Drehorgelspieler diesseits und jenseits der Mauer dabei von vergleichbaren Motiven geleitet wurden. Daher besaßen einige Akteure der „Drehorgel-Szene“ in Ost wie West bereits in der Vorwende-Zeit Kontakte, die sich nach 1989 rasch intensivierten. Durch ein gemeinsames „Hobby“ verband sich schnell, „was zusammengehört“. So traten viele aktive Drehorglspieler aus der DDR bald dem 1969 gegründeten „Club deutscher Drehorgel-Freunde“ mit Sitz in Hamburg bei, um auf Drehorgel-Festen in den alten und neuen Bundesländern, aber auch im benachbarten Ausland oft gemeinsam mit ihren Instrumenten aufzutreten.
- 1) Auftritt beim „Pfingstmarkt“ in Dessau 1987
- 2) Beim „4. Drehorgel-Treffen“ rund um den Dresdener Kulturpalast, Oktober 1987. Ganz links: H-Günther Preusche aus Leonberg als einer der ersten westdeutschen Teilnehmer
- 3) Hildegard und Willi Becker beim „Festival International de la Musique Méchanique“ im schweizerischen Les Gets, 1994
- 4) Hinweisschild am „Drehorgel-Untersatz“ mit Aufklebern von Auftrittsorten
- 5) Reservierungsanfrage an das „Naturfreunde-Haus“ Bruchsal, 1994
- 6) „Trachtenfest“ am Karlsruher Schloss, Juni 1989
- Fotos: DMM
Doch worum handelt es sich bei dem DMM übergebenen Material? Es ist der Nachlass von Willi Becker, geb.1917 in Wernigerode im Harz, aufgewachsen in Halle an der Saale, gelernter Automechaniker, Kriegsversehrter und nach 1945 als „Neu-Lehrer“ an der „Station Junger Naturforscher und Techniker“ (einer nachschulischen Einrichtung der DDR) in Halle tätig, der als Rentner ab 1984 das Drehorgelspiel für sich entdeckte und damit als lizenzierter „Volkskunstschaffender“ auf öffentlichen oder privaten Festen diverser Art buchbar auftrat. Nicht nur, um damit seine Rente aufzubessern, sondern gerade, um auf den in der DDR – vergleichbar zur BRD – sich ausbildenden nostalgisch-romantisierenden „Drehorgel-Treffen“ teilzuhaben. Quasi als „Sympathieträger“ einer vermeintlichen einstigen Zeit „einfachen Glücks“.
Mit der sich 1987 anbahnenden Städtepartnerschaft zwischen Halle und Karlsruhe, trat er in der badischen Kapitale schon vor dem Herbst 1989 beim Badischen Heimatfest (1988) oder dem Karlsruher Trachtenfest (1989) auf. Dabei übernachtete er mit Gattin Hildegard im „Naturfreunde-Haus“ Bruchsal und hatte ebenso rasch freundschaftliche Kontakte zum drehorgelspielenden Bäckermeister Felix Bedürftig aus Bretten. Nach der Wende spielte Willi Becker mit seiner Drehorgel von 1864 aus der Waldkircher Fabrikation „Gebr. Bruder“ bei zahlreichen Gelegenheiten in Deutschland auf, aber auch z. B. in Österreich und der Schweiz.
Und dies als ein festes Mitglied der sich formierenden gesamtdeutschen Drehorgel-Community. Dies zusammen mit seiner Frau Hildegard, die dann folgend mit einer eigenen Drehorgel mit ihm auftrat. Da sein Sohn Rolf, der vor ihm mit einer „Harmonipan“ des Berliner Herstellers „Frati“ (die sich sein Vater am Anfang seiner Drehorgel-Karriere von ihm auslieh) und sozialkritischen Kommentaren, die ihm Konflikte mit dem SED-Regime einbrachten, schon als Klein- und Straßenkünstler unterwegs war, firmierte dies dann alles als „Drehorgel-Familie Becker“. „Orgel-Rolf“, heute noch als Entertainer und Promoter mit Trabi oder Drehorgel unterwegs, ist ein Zweig der Geschichte, der teils auch im Nachlassmaterial erzählt wird.
Willi Becker wollte schon zu DDR-Zeiten seine Auftritte dokumentieren. Daher hortete er Fotoaufnahmen davon. Sie bieten aus der Frühzeit seiner Karriere gleichfalls als „unzensierte“ Bilder einen Blick auf das Leben in der Öffentlichkeit der Straßen und Plätze des SED-Staates. Auch hob er vielfach die Korrespondenz auf, die damit im Vorfeld in Verbindung stand. Ebenso die dazugehörige Berichterstattung der Presse bzw. auch Programmzettel oder Programmhefte – gar Plakate - der Veranstaltungen. Gleichfalls Festabzeichen wie Anstecknadeln, „Buttons“ sowie Teilnahmeurkunden oder Städteplaketten und Städteaufkleber. Letztere gerade nach 1989. Damit wird ein Nachzeichnen seiner „Auftritts-Route“ möglich. Dazu wurde ebenso oft dokumentiert, unter welchen Konditionen die einzelnen Stationen zustande kamen. Etwa durch aufbewahrte Engagement-Verträge oder Abrechnungen für seine Auftritte. In der Drehorgel-Szene vernetzt, geben Visitenkarten, Fotopostkarten und Korrespondenzen mit anderen aktiven Drehorgelspielern aus dem Hallenser Nachlass einen Einblick in den Kosmos dieses musikalischen Interessenkreises vor und nach der Wende.
Willi Becker hatte zwar begonnen, seine ersten Auftrittsjahre (1984-1988) in der DDR mit auf einigen Papierbögen aufgeklebten Fotos und Zeitungsartikeln zu dokumentieren, aber die steigende Intensität seiner Drehorgel-Aktivität ließ ihm scheinbar kaum mehr Zeit dazu. Doch dafür verwahrte er Fotos und Korrespondenzen in entsprechend gekennzeichneten Umschlägen, die eine Rekonstruktion seiner Auftrittswege erlauben. Zusammen mit den anderen genannten Archivalien ein großes Puzzle oder Memory-Spiel in der Dimension von 2,5 Umzugskartons. Begründet auch durch Willi Beckers Gewohnheit, dass er interessierte Zuschauer bzw. Zuhörer, die sich mit ihm fotografieren ließen, bat, ihm Abzüge der Bilder zuzuschicken – mit einem großen Rücklauf. Indirekt spricht dies ebenso davon, welche Faszination das Drehorgelspiel in der besagten Periode ausübte. Derart entstand ein immenser Bildfundus, der nun im DMM mit den anderen Unterlagen – auch durch die Hilfe eines studentischen Praktikums - in eine Chronologie gebracht wird.
Neben der autobiografischen Selbstdarstellung Willi Beckers wird mit all diesen Archivalien ebenfalls die Geschichte der Drehorgel als „Freizeit-Aktivität“ in der jüngsten Geschichte Deutschlands in der Breite greifbar. Es ist auch Zeichen dafür, wie das Ehepaar Becker (dem gelernten Berufsbild Willi Beckers entsprechend mit eigenem Auto) seine „Reisewünsche“ gerade nach 1989 mittels ihres Hobbies im Alter auslebte. Stellvertretend spricht dies sicher für viele andere Drehorgelspieler und „Leierkastenmänner“ aus Ost und West. Doch ist eine endgültige Auswertung des Materials weiter noch Zukunftsmusik. Aber ein erster Schritt ist getan.
„Wir orgeln heute für die internationale Solidarität“ verkündet ein aus dem Konvolut Willi Becker erhaltenes Papp-Plakat für das fahrbare Untergestell der Drehorgel aus einem Kinderwagen vom Anfang des 20. Jahrhunderts, dass er für einen Auftritt bei einem in der DDR häufigen „Solidaritäts-Basare“ selbst gefertigt hatte. (siehe Foto) Hier für den „VDJ-Basar“ des „Verbandes deutscher Journalisten“ in Halle Anfang September 1988. Dabei hatte Willi Becker 175 Mark Obolus von den Besuchern eingespielt, die dem guten Zweck gespendet wurden. Solidarität ist ein gerade in der heutigen Zeit eingeforderter Begriff. Hoffen wir, dass er auch danach, und in anderen Zusammenhängen, Bestand hat. Willi Becker hat dereinst in großen Menschenmengen dafür geworben. Dies Motto in seinem Nachlass mag im übertragenen Sinne heute auf eine andere Ebene gehoben, ebenfalls dafür werben.