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Weihnachtsgrüße aus dem Deutschen Musikautomaten Museum

„Tanz auf dem Seil“ – Ein Kommentar zum Jahresausklang

Diesmal, werte Leserinnen und Leser dieser Seiten, entbietet das Deutsche Musikautomaten-Museum, als eine Filiale des Badischen Landesmuseums Karlsruhe (BLM), einen Weihnachtsgruss bewusst fern von weihnachtlichen Melodien und Dekoren. Es ist vielmehr ein nachdenkliches, im weitesten Sinne besinnliches, Statement zu Ende des alten Jahres.
"Krisenmodus", dies wurde als Wort des Jahres 2023 gekürt, bekanntgeben durch die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) mit Sitz in Wiesbaden. Eine dortige Jury wählt jedes Jahr eine Rangfolge mit insgesamt zehn Wörtern aus, die in den vergangenen Monaten in der öffentlichen Diskussion dominant waren und so das Jahr medial prägten. Ausgewählt aus rund 1.800 Belegen nach Vorschlägen aus den verschiedensten Mediensparten wie Presse, Rundfunk und Fernsehen, aber zudem kann jede Privatperson einen Vorschlag einsenden.
Die Hintergründe für den erstplatzierten Begriff sind hinlänglich bekannt: die Nachwirkungen von Corona, der Krieg in der Ukraine, der Nahost-Konflikt, steigende Flüchtlingszahlen, der Klimawandel mit Extremwetterlagen, die Fragen um erneuerbare Energien und eine damit verbundene Angst um den Wirtschaftsstandort Deutschland, die Debatten um eine zögerliche Digitalisierung und eine „Künstliche Intelligenz“, der Mangel an Fachkräften, ein Nachtragshaushalt und schließlich eine verfehlte PISA-Studie. Die Überalterung der Gesellschaft sowie eine Manifestierung der Kluft zwischen Arm und Reich hinterfangen dies seit Jahren.
Dies skizzieren gleichfalls die von der Gesellschaft für deutsche Sprache nachfolgend platzierten Begriffe: Antisemitismus, leseunfähig, KI-Boom, Ampelzoff, hybride Kriegsführung, Migrationsbremse, Milliardenloch, Teilzeitgesellschaft, Kussskandal. Diese Wahl an Worten ist ernst zu nehmen, denn sie spiegeln die Gefühlswelt der Öffentlichkeit wider. Kaum zu leugnen, dass all die zuvor genannten Faktoren die Gesellschaft verunsichern und sie in verschiedene Haltungspositionen spalten. Viele fürchten um geglaubte individuelle Sicherheiten, was einen Populismus gerade auch durch Social-Media Anschub befeuert. In den in Wiesbaden ermittelten Begriffen kulminiert im übertragenen Sinne ein „Jahresrückblick“, dessen Spielarten in Printmedien und Fernsehformaten (ob öffentlich-rechtlichen Sendern oder im Pay-TV) zum Jahreswechsel über uns hereinfluten und bis in das neue Jahr hereinfluten werden. „2023 Welt im Aufruhr“ titelt gerade ein Sonderheft des Magazin „Stern“. Angelehnt an die geopolitische Analyse des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler „Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert“, erst gegen Ende des Jahres im renommierten Berliner Rowohlt-Verlag erschienen.
Es scheint ein schmaler Grat, auf dem sich derzeit die Gesellschaft bewegt, einem Seiltanz gleich. Metaphorisch dafür stehen mag ein Objekt des Deutschen Musikautomaten-Museums, welches sich dort in der ständigen Ausstellung im Bereich von Musik-Androiden aus französischer Produktion präsentiert.
Unter der Inventarnummer 87/311 gibt es dort ein Musikwerk mit mechanischen Figuren - mit dem Kurztitel „Seiltänzer(in)“. Es stammt aus dem „Maison Phalibois“ in Paris und datiert auf das Jahr 1879. Betrieben wird es durch ein Federwerk mit Aufzugschlüssel, das über eine Stiftwalze und einen Stahlkamm zwei Melodien zum Erklingen bringt.
Unter einer abgerundeten Glaskuppel wächst eine imaginäre Eiche mit einem Stamm aus bemaltem Gips, Zweigen aus Draht und Blättern aus Papier, in der wundersamerweise aber auch Kirschblüten sprießen. Davor befindet sich ein metallenes Tanzseil, welches an zwei festen Punkten befestigt ist. Hier werden „tänzerische“ Darbietungen, mit Sprüngen auf und ab, von einer Seiltänzerin vollführt. Sie zeigt sich einem Gewand mit orientalischen Kostümzitaten wie einer Weste der algerischen Zuaven, des griechisch-albanischen Männerrockes „Fustanella“ und einem turbanartigen Kopfputz. Als Balance-Hilfe nutzt sie zwei Fähnchen in den Händen. Die Kostüme der sie begleitenden Musiker links und rechts erinnern an die Kleidung spanischer Stierkämpfer. Sie begleiten imaginär das Auf und Ab der Seiltänzerin mit unterschiedlichen Geigen. Die sich bewegenden Puppen haben Köpfe, Arme und Beine aus bemaltem Biskuit-Porzellan. Komplettiert wird die Szenerie durch einen windschiefen Zaun auf der linken Seite und eine Steinformation auf der rechten. Alles „begrünt“ durch teils eingefärbte Trockengräser. Platziert ist die Szene auf einem gekehlten hölzernen Unterbau, in dem sich das Musikwerk befindet. Von hier gehen auch die Zugmechanismen aus Draht zur Bewegung der Figuren aus.

Foto: DMM

Aufnahme Klaus Biber, Dt. Musikautomaten Museum: 

Jean Marie Phalibois (geb. 1835) wurde in den 1860er Jahren in Paris als „cartonnier“ tätig, stellte zunächst Artikel aus Papiermaché her. Bald rüstete er Karaffen, Zigarrenständer, Tintenfässer etc. mit Musikwerken aus. Auf der Pariser Weltausstellung 1878 präsentierte man in der Spielzeug-Abteilung „scènes mécaniques“, animierte figürliche Szenen mit Musikwerken. Folgend wurden solche Artikel um 1900 Hauptzweig der Produktion. Die fragilen Gebilde wurden durch Glasstürze geschützt. Um 1900 verlegte sich die Fertigung der Werkstatt auf Androiden bzw. „figurines animées“, für Reklamezwecke. Nachdem der Firmengründer 1893 das Geschäft seinem Sohn übergab, veräußerte dieser 1925 das Unternehmen an den ebenfalls in Paris ansässigen Konkurrenten Roullet-Decamps, der sich ab 1889 auf die Fertigung von beweglichen Werbefiguren für Schaufenster spezialisiert hatte.
Solche Artikel von Phalibois richteten sich an vermögende, adelige wie großbürgerliche, Haushalte als Dekorationsobjekte. Ein Hinweis darauf gibt eine Katalogseite der Silber & Fleming Ltd., einer Londoner Firma, die seit 1856 mit gehobenen Haushalts- und Dekorationsstücken, etwa mit englischem und ausländischem Ziergeschirr, Glaswaren, Kronleuchtern, Spiegeln, Blumenständern, Lampen, Buntglas, Objekten aus Sterlingsilber und galvanisierten Waren handelte.